Ist dein Kind Synästhetiker?

Synästhesie
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Jutta AdministratorKeymaster
Mein Name ist Jutta Jorzik-Oels, als Berater und Coach bin ich spezialisiert auf Hochsensibilität. Ich helfe hochsensiblen Menschen in Krisensituationen.

Hochsensibilität und Synästhesie

Ein Sonderfall der hochsensiblen Wahrnehmung sind Synästhesien. Synästhesien kommen bei neurotypischen Menschen überhaupt vor. (neurotypisch = die neurologisch so organisiert wie wie meisten Menschen)

 

Wenn dein Kind hochsensibel** ist, ist es möglicherweise – sogar wahrscheinlich – auch Synästhetiker. Leider gibt es bis jetzt keinerlei Erkenntnisse darüber, wieviel Hochsensible auch Synästhetiker sind. Zwar wird an dem Phänomen Synästhesie geforscht; so weiss man, dass bei Synästhetikern die neurologische Vernetzung im Gehirn anders ist als bei Nicht-Synästhetikern. Dennoch wird Synästhesie nicht im Zusammenhang mit Hochsensibilität erforscht. Bekannt ist aber, dass Synästhesien in bestimmten Familien gehäuft vorkommt, dass Synästhesie in Zusammenhang steht mit Kreativität. Über die Häufigkeit von Synästhesien in der Bevölkerung sind die Ergebnisse sehr verschieden; manche sprechen von 4%, andere von 1%.

* lies dazu auch: Ist mein Kind hochsensibel? und Das hochsensible Kind

Was ist eine Synästhesie? Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und ist zusammengesetzt aus „zusammen“ und „empfinden“ Synästhesie bedeutet, dass eine Sinneswahrnehmung eine andere auslöst; wie beispielsweise das farbige Hören: Musikhören ist mit dem Sehen von Farben verbunden. Es gibt vermutlich hunderte Synästhesien! Einige der häufigeren sind:*

Graphem-Farb-Synästhesie:Buchstaben und/oder Zahlen sind untrennbar mit einem Farbeindruck verbunden

Farbiges Hören:Geräusche und/oder Musik werden gleichzeitig in Farbe und/oder Formen wahrgenommen

Sequenz-Raum-Synästhesie:Zeiteinheiten wie z.B. Wochentage, Monate, das Jahr oder auch Ziffern besitzen eine bestimmte räumliche Anordnung bzw. Position vor dem inneren Auge

Gefühls-Synästhesie:Emotionale Zustände werden farbig und/oder als Form wahrgenommen.

Person-Farb-Synästhesie:Persönlichkeiten wird eine jeweils charakteristische Farbe zugeordnet. Auch die Zuordnung von Ziffern ist möglich.

Ticker-Tape-Synästhesie:Wahrnehmung von gesprochenen, gehörten, gedachten Worten als „Newsticker“ oder durch Auftauchen der Worte für Sekundenbruchteile vor dem inneren Auge.

Lexikal-gustatorische Synästhesie:Worte haben eine bestimmte Geschmacksrichtung und/oder auf der Zunge spürbare Textur.

*Quelle: Synästhesie

 

Die Zuordnung ist individuell; das heisst, wenn ich ein A grün sehe, sieht ein anderer Synästhetiker das A möglicherweise gelb. Allerdings ändert sich diese individuelle Zuordnung nicht, das A behält immer dieselbe Farbe, eine bestimmte Musik immer dieselbe Farbe.

Die meisten Synästhetiker haben eine ganze Reihe von Synästhesien, die aber nicht bei jedem gleich stark ausgeprägt sind; und nicht immer in gleicher Stärke auftreten.

Inzwischen gehe ich davon aus, dass jeder Hochsensible auch Synästhetiker ist! Die meisten Synästhesien sind nicht so spektakulär, und sehr viele Hochsensible sind sich überhaupt nicht bewusst, dass sie Synästhetiker sind.

 

Musik, Lichtkugeln
farbige Musik

 

Synästhetische Wahrnehmung beim Kind

Wenn schon viele hochsensible Erwachsene sich ihrer Hochsensibilität bewusst sind, nicht aber ihrer vielen Synästhesien, wie mag es dann erst Kindern gehen?

Das Kind weiss nicht, dass andere nicht wahrnehmen, was es sieht, hört, riecht oder fühlt.

Ein Kind mit synästhetischer Wahrnehmung, das sich über den Lärm in der Schulklasse beschwert, kann nicht ahnen, dass die anderen diesen Lärm nur mit den Ohren hören, aber weder diese Explosion von scheusslichen Formen sehen, die der Lärm verursacht; noch das Kratzen auf der Haut oder den ekligen metallischen Geschmack dieses Lärms.

Ein synästhetisch wahrnehmendes Kind, das mit seiner Mutter durch eine Landschaft fährt, sagt vielleicht neben dem blühenden Rapsfeld: „Hier ist es so scheusslich, ich halte es nicht aus.“ Denn das riesige gelbe Rapsfeld hört sich ganz grell und schrill an – unerträglich halt. Die ebenfalls hochsensible, Mutter wundert sich und fragt nach. Das Kind antwortet vielleicht: „Das Gelb ist so gruselig, wie das klingt!“ Die Mutter bemüht sich, das Kind zu überzeugen, wie wunderschön das gelbe Feld ist. – Denn sie ist sich ihrer eigenen Synästhesien nicht bewusst, und in ihr erzeugt dieses Gelb einen angenehmen, warmen Geschmack im Mund.

Mit anderen Worten, ein verständnisvoller hochsensibler Erwachsene, der kaum etwas über Synästhesien weiss, verwirrt ein hochsensibles Kind u.U. mehr als ein verständnisloser neurotypischer Mensch.

 

Siehst du nicht, wie laut das ist?

Vermutlich sind Synästhesien der Hauptgrund für die Reizüberforderung bei Hochsensiblen allgemein und bei Kindern und Jugendlichen für die häufige Überforderung in Gruppen. Bei einem Kind, das scheinbar grundlos Wutanfälle bekommt, sollte man immer auch an Synästhesien denken!

Wenn du deinem Kind Fragen stellst, um über eventuell vorhandene Synästhesien Klarheit zu bekommen zwecks Unterstützung des Kindes, sind deiner Phantasie bei der Kombination der verschiedenen Sinneswahrnehmungen keine Grenzen gesetzt.

Einige Anregungen:

Wie sieht Frau Meiers Stimme aus? – Wie schmeckt es, wenn du dich freust? – Welche Farbe hat Papa, wenn er traurig ist? – Wie hört sich das an, wenn ich deine Nägel schneide? Welche Farbe hat das Wort Schule? Wie klingt der Dienstag?

Keine Angst, dass das Kind dich für komplett verrückt hält, wenn nichts davon zutrifft! Denn das tut es vermutlich eh, wenn es hochsensibel ist.

Typisch ist auch, – sehr schwer nachvollziehbar für neurotypische Menschen -, dass Bewegungen synästhetische Wahrnehmungen auslösen:

Wenn Herr B. An die Tafel schreibt, blitzt es rot um seinen Arm.“ – “Die Musiklehrerin dirigiert immer so schön gelb“. – „Wenn ich den Nachbarn beim Nordic Walking sehe, kratzt es in meinem Hals.“  – Ich muss immer lachen, wenn Tante Anna spricht, denn aus ihrem Mund purzeln immer kleine Fische, die durch die Luft schwimmen.“

Nicht selten werden auch bestimmte Tage sinnlich oder emotional erlebt:

Dienstag ist mein Lieblingstag, der ist so rosa“ – „Samstag mag ich nicht, der Samstag ist traurig.“

Diese Beispiele sind Anregungen; es gibt hunderte von Möglichkeiten!

 

ein hochsensibles Kind
Hochsensibles Kind

Noch schwieriger ist es, wenn bestimmte Bewegungen, Farben u.a. visuelle Eindrücke, Töne bestimmte Gefühle auslösen, die in keinem kausalen Zusammenhang stehen. Denn selbst wenn man um seine Synästhesien weiss, ist einem nicht unbedingt bewusst, dass die merkwürdige Traurigkeit, die einen manchmal unvermittelt überfällt, von diesem ganz speziellen Blau ausgelöst wird, das der See zu bestimmten Zeiten bei bestimmten Licht- und Wetterverhältnissen annimmt. Der Regen kann einen Geschmack auslösen, Sonnenschein einen Klang. Auch hier sind die Möglichkeiten nahezu unbegrenzt. – Bedenke auch: Eine Synästhesie kommt selten allein!

 

Wenn Gelb traurig ist und „Plomps“ kitzelt

So manche scheinbare kindliche Schadenfreude geht auf das Konto einer Synästhesie. Dieses „Plomps“, das es machte, als Karlchen mit dem Roller an die Mauer fuhr, hörte sich so furchtbar komisch an, dass lachen musste. Das kitzelte ganz doll am ganzen Körper; dass man laut loslachte. Nein, man wollte gar nicht lachen, weil Karlchen weinte und man ja auch fühlte, dass sein Kopf ganz weh tat. –

Es ist sicher für jeden nachvollziehbar, dass ein Kind, dem es so ergeht, nicht nur keine Freunde hat, sondern sehr unbeliebt ist bei Kindern und Erwachsenen.

Ich möchte jeden Erwachsenen auffordern, der mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen mit scheinbar unmotivierten Wutausbrüchen oder nicht nachvollziehbaren Reaktionen zu tun hat, vorsichtig und taktvoll zu untersuchen, ob Synästhesien im Spiel sind. Und wenn du einen Treffer landest, denke daran: Vor allem bei den schwer zu fassenden Bewegungs – und Gefühls-Synästhesien ahnt das Kind und auch der Jugendliche nicht, dass nicht jeder das Gleiche empfindet!

 

Unterstützung für junge Synästhetiker

Ein hochsensibles Kind wird sich sehr früh darüber bewusst, dass es anders ist als die Mehrheit. So ist es nichts Neues, wenn du ihm behutsam altersentsprechend erklärst, dass auch hier seine Wahrnehmung der Welt ganz besonders ist. Das Wichtigste ist, Verständnis aufzubringen für seine für die Umwelt merkwürdigen Reaktionen und ihm die Sicherheit zu vermitteln, dass es so, wie es ist, gut ist und in seinem So-Sein vollkommen angenommen wird. Natürlich sollten unbedingt alle anderen Betroffenen aufgeklärt werden; vor allem alle Freunde und Klassenkameraden, wenn das Kind sich durch sein synästhetisch bedingtes Verhalten unbeliebt macht. 

Ansonsten ist es mit Synästhesien genau wie mit der Hochsensibilität: Sie können schon mal etwas anstrengend sein; aber sie machen das Leben auch bunter und spannender!

Dieser Artikel ist ein Auszug aus meinem neuen Buch Hochsensibilität bei Kindern und Jugendliche.

Hier ist alles zusammengefasst, was man über hochsensible Kinder wissen sollte; einschliesslich einem umfangreichem Arbeitsbuchs.

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