Denkst du immer positiv?

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Jutta AdministratorKeymaster
Mein Name ist Jutta Jorzik-Oels, als Berater und Coach bin ich spezialisiert auf Hochsensibilität. Ich helfe hochsensiblen Menschen in Krisensituationen.

Jahrelang hat man uns eingetrichtert, wir sollen positiv denken. Von allen Seiten , von jedem Therapeuten, jedem Coach hörten wir es Tag für Tag. In den sozialen Medien wird es wie ein Mantra beständig wiederholt.  Kein  Management Training kommt mehr ohne die Formel aus:

  • Suche in allem, was geschieht, das Positive!
  • Sei heute dankbar für das Positive in deinem Leben!
  • Glücklich zu sein ist eine Entscheidung!

Bei Google findet man zum Begriff „positives Denken“ 32 Millionen Einträge. Zum Vergleich: Zu Traumaforschung gibt es 32000 Einträge, zu Krisenbewältigung 530.000 und zu Resilienz knapp 8 Millionen.

Positiv zu denken heisst, in dem was uns widerfährt, das Gute zu sehen und immer optimistisch zu sein.

Diese Einstellung hat zweifellos eine Menge positiver Effekte. Man weiss aus der Gehirnforschung, dass das Gehirn relativ schnell lernt, entweder positiv oder eben negativ zu denken. Das heisst, man kann sich positives Denken antrainieren, es zu einer festen Gewohnheit werden zu lassen. Man betrachtet das berühmte zur Hälfte gefüllte Glas immer als halbvoll.

Wer positiv denkt, ist seelisch ausgeglichener, fröhlicher, optimistischer. Sieht vertrauensvoller in die Zukunft. Positives Denken verringert deutlich Stress und sorgt dafür auch für mehr körperliche Gesundheit. Das alles führt auch zu beruflichem und finanziellen Erfolg.

Je schwieriger die Zeiten, desto positiver die Gedanken?

Zweifellos befinden wir uns politisch und wirtschaftlich in einer sehr schweren Krise; eventuell der schwersten seit Ende des zweiten Weltkriegs. Bei vielen Menschen wächst die Verzweiflung.  Es scheint nur einen Ausweg zu geben: Positiv Denken! Täglich erscheinen ständig neue Ratgeber. Allein bei Amazon gibt es 8000 Bücher zu dem Thema!

(Lies auch: Sei doch nicht immer so negativ!

Positiv denken als Realitätsflucht

Und damit komme ich zu einer grossen Gefahr, die mit positivem Denken verbunden ist:  Es eignet sich ganz wunderbar dazu,  sich in eine ideale Traumwelt zurückzuziehen, in der Probleme keinen Platz haben.

Zu glauben, wenn ich positiv denke, geschieht mir nur Gutes, ist ein tragischer Irrtum.

Gestern fand ich in den sozialen Medien einen Comic darüber: Ein Adler hielt einen Hasen in seinen Fängen und flog mit ihm zu seinem Nest oben auf dem Felsen. Der Hase blickte nach unten und rief freudig: „Und ich kann doch fliegen!“

positiv um jeden Preis
immer schön positiv bleiben! (Bild von Pixabay)

Positives Denken hat eine Menge nützlicher Effekte. Die Frage dabei ist nur:

Wo fängt der Selbstbetrug an?

Wenn nur alles unter dem Aspekt des Positiven betrachtet wird – siehe das Beispiel vom Hasen -, führt positives Denken in eine Scheinwelt.
Stell dir vor, dein Partner stirbt plötzlich und völlig unerwartet und lässt dich mit zwei Kleinkindern zurück. Stell dir vor, der Schulleiter deiner Teenietochter teilt dir mit, dass deine Tochter drogenabhängig ist.
Krasse Beispiele? Ja, aber nicht aus der Luft gegriffen.
Wir alle werden im Leben vor Herausforderungen gestellt,  die wir als Steine auf unserem Weg oder als Schicksalsschlag empfinden. Jeder dieser Steine oder Schicksalsschläge stellt uns die Aufgabe, daran zu wachsen, sich weiterzuentwickeln. Solche Ereignisse positiv zu betrachten, würde bedeuten, auszuweichen, sich der Herausforderung nicht zu stellen.

Spirituelles Bypassing

Oft sind es Freunde, Verwandte oder Kollegen, die zu  positivem Denken auffordern, wenn man sich in einer persönlichen Katastrophe in der Hoffnung auf  Trost und Hilfsangebote an sie wendet. Das erfuhr ich selbst, als innerhalb von wenigen Wochen meine langjährige Beziehung sehr unerwartet zerbrach und ich meine Arbeit verlor. In dieser Situation suchte ich nach Halt und Trost bei Nahestehenden; stattdessen hörte ich einige Male: „Entscheide dich doch, glücklich zu sein!“, und „Alles ist gut!“

Positives Denken in solch einer Situation ist toxisch, denn es ist nichts anderes als eine Ausweichstrategie, um sich seinen Schmerzen nicht stellen zu müssen.
Sehr häufig angewandt wird diese Form von Vermeidungsstrategie in Paarbeziehungen, Konflikte werden mit positivem Denken beschwichtigt. Leider ist es gar nicht selten, dass auf diese Weise ernste Probleme jahrelang verdrängt werden, bis die Beziehung nicht mehr zu retten ist.

Realitätsverweigerung

Besonders perfide ist die Anwendung des positiven Denkens in Unternehmen, wenn Untergebene mit positiven Affirmationen unter Druck gesetzt und manipuliert werden:

„Du kannst nicht – gibts nicht“ – „Wer will, findet Wege; wer nicht will findet Gründe.“ „Wenn du an dich glaubst, schaffst du alles, was du willst.“

Und wenn man es doch nicht schafft? – Dann sind die Folgen leider häufig Schuldgefühle und Scham. Die wiederum bewirken das Gegenteil dessen, was eigentlich mit dem positiven Denken beabsichtigt ist: Die Stärkung des Selbstwertgefühls.
Lies dazu auch Scham und Hochsensibilität

Richtig fatal können die Folgen für Solopreneure sein, die unerschütterlich an die Macht des positiven Denkens geglaubt haben, weil im Businesscoaching leider oft behauptet wird:

Du schaffst alles! (Sonst hast du nicht positiv gedacht)

Gelassenheit und Vertrauen

Wie kann man nun auf gesunde Weise positiv denken, vor einschneidenden Lebensveränderungen, in schwierigen Situationen und nach Schicksalsschlägen?

Wenn die Lage schwierig ist, soll sie auch so benannt werden.
Hilfreich ist, Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen, dass sich alles zum Guten wendet, ist etwas ganz anderes als Schönreden. Hilfreich ist auch, Gelassenheit zu entwickeln.

Denkst du immer positiv?
dankbar – Bild von John Hain auf Pixabay

Dankbarkeit

Aus eigener Erfahrung empfehle ich tägliche Dankbarkeitsübungen. Eine dankbare Grundhaltung dem Leben gegenüber erzeugt Vertrauen in die Zukunft und Gelassenheit im Umgang mit Krisensituationen.

Es gibt immer etwas, für das man dankbar sein kann, auch in schwierigsten Situationen. Dankbar für das Schöne, was man schon erlebt hat. Dankbar, dass man in einm geheizten Raum ist, während es draussen stürmt und schneit. Dankbar, dass man danken kann, wie es in einem Kirchenlied über Dankbarkeit heisst. (Danke für diesen guten Morgen)

Der Erfinder des positiven Denkens

Da positives Denken so missverständlich ist und falsch angewandt verheerende Folgen haben kann, finde ich es bemerkenswert, einen Blick auf den Menschen zu werfen, der das positive Denken erfunden hat.*

Der US-amerikanische Psychologe Martin Seligman (* 1942) entwickelte in den 1990er Jahren die positive Psychologie, wonach jedermensch lernen kann, glücklich zu sein. Seligman forschte viele Jahre durch seine über Depression und erlernte Hilflosigkeit. Bekannt wurde er in weiten Kreisen vor allem durch seine populären Ratgeber mit Anleitungen zum glücklichen Leben.

* Da ich Schwierigkeiten habe, den Menschen von seinem Werk zu trennen, möchte ich darauf hinweisen, dass Seligman im Zuge seiner Forschung Hunden mit Elektroschocks erhebliche Schmerzen zugefügt, um die Auswirkungen aversiver Reize auf Psyche und Verhalten dieser Tiere zu untersuchen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Seligman)

Ob die Tatsache, dass der Mann, der andere angeleitet hat, mit positivem Denken glücklich zu sein, ein Tierquäler war, relevant ist, mag jeder selbst entscheiden.

Kennst du schon mein Grundlagenwerk über Hochsensibilität?

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