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Noch immer haben die Vorstellungen über Hochsensibilität in der Öffentlichkeit, aber leider auch bei Ärzten und Psychologen oft nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun; das Wissen darüber ist sehr unzureichend, teilweise auch abwegig. So ist es kein Wunder, dass nicht nur die Betroffenen selbst zu einer falschen Einschätzung kommen, sondern Ratsuchende häufig von Fachleuten Fehldiagnosen erhalten.
Zu Verwechslungen kommt es in beiden Richtungen: Hochsensibilität wird nicht als solche erkannt, sondern die Merkmale werden einem anderen Persönlichkeitsbild zugeordnet. Umgekehrt halten sich häufig Menschen, die eine Reihe typisch hochsensibler Eigenschaften aufweisen, für hochsensibel, obwohl das nicht zutrifft.
Tests zur Hochsensibilität
Alle mir bekannten Online Tests zur Hochsensibilität basieren auf dem von Elaine Aron entwickelten Test. Danach wird jedem, der die Hälfte der 27 Fragen für sich positiv beantwortet, Hochsensibilität attestiert.
Bei diesem und ähnlichen Tests gibt es vor allem zwei Probleme: Viele Testaussagen sind keineswegs nur typisch für Hochsensibilität, sondern auch bei z.B. Hypervigilanz oder Asperger.
Das grössere Problem ist aber, dass die Beantwortung der Fragen sehr subjektiv ist. Womit vergleiche ich, ob etwas stark auf mich wirkt oder nicht? Aron Test: Bin ich hochsensibel
Vermutlich sind diese Hochsensibilitätstests mit ein Grund dafür, dass Hochsensibilität häufig mit ganz anderen Persönlichkeitsstrukturen vertauscht wird.
Hypervigilanz
Am häufigsten werden Hochsensibilität und Hypervigilanz durcheinandergeworfen.
Hypervigilanz bedeutet erhöhte Wachsamkeit; das auffallendste Symptom ist die sehr starke sensorische Sensibilität, die auch als Leitsymptom für Hochsensibilität gilt. Da fast alle hypervigilanten Menschen auch sehr sensibel auf Stimmungen und Emotionen in der Umgebung reagieren, sehen Hochsensibilität und Hypervigilanz sich zumindest auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Die sehr häufige Vertauschung ist unter anderem dafür verantwortlich, dass in der Öffentlichkeit ein völlig verzerrtes Bild über Hochsensibilität entstanden ist. Zum Beispiel ist dadurch die Annahme entstanden, dass Hochsensibilität auch erworben werden kann.
lies dazu auch: hochsensibel oder hochempfindlich?
Hochbegabung
Fast genauso häufig wird Hochsensibilität gleichgesetzt mit Hochbegabung. Der Begriff Hochbegabung bezeichnet aber ausschließlich die intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen, die mit einem Intelligenztest messbar sind. Über die Persönlichkeit werden mit einem solchen Test keinerlei Aussagen getroffen. Als hochbegabt gilt, wer einen IQ (Intelligenzquotient) von 130 Punkten und mehr erreicht. Einen IQ von 130 und mehr Punkten haben ca. 2% der Menschheit: Da die Anzahl der Hochsensiblen aber auf 15% geschätzt wird, ist klar, das der grösste Teil der Hochsensiblen nicht hochbegabt ist.
Sind denn umgekehrt alle Hochbegabten hochsensibel? Keineswegs!
Hochbegabung kommt häufig vor bei Asperger – Autisten und auch bei Psychopathen.
Wie ist es dann zu der Gleichsetzung von Hochbegabung und Hochsensibilität gekommen? Vermutlich dadurch, dass Hochsensible und Hochbegabte ähnliche soziale Probleme haben. Viele Hochbegabte bleiben in ihren Leistungen sehr weit unter ihren Fähigkeiten; sogar so weit, dass sie für minderbegabt gehalten werden. Dasselbe gilt für Hochsensible. Ausserdem ist sowohl bei Hochbegabten als auch bei Hochsensiblen das Denken vernetzt.
Hochsensibilität hat mit mit der intellektuellen Begabung nichts zu tun. Es gibt gerade unter den sogenannten geistig Behinderten einen recht hohen Prozentsatz Hochsensibler.
lies auch: Sind alle Hochsensiblen hochbegabt?
AD(H)S
AD(H)S Diagnosen gehören zu den häufigsten Fehldiagnosen bei hochsensiblen Kindern und Jugendlichen überhaupt; diese Diagnose sollte im Hinblick auf Hochsensibilität immer hinterfragt werden.
Kinder mit AD(H)S werden von Sinnesreizen so sehr überwältigt, dass es ihnen sehr schwer fällt, sich sowohl innerlich als auch äußerlich abzugrenzen. Sie haben deswegen in der Schule, oft schon im Kindergarten Konzentrationsprobleme und meist auch soziale Probleme, die auch für hochsensible Kinder typisch sind.
Übersteigerter Bewegungsdrang und vor allem die typische Zappeligkeit im Zusammenhang mit Hochsensibilität ist allerdings ungewöhnlich und eher ein typisches Merkmal für Autismus.
hier gibt es mehr Infos: Leitsymptome bei ADHS
Da AD(H)S in den meisten Fällen gehäuft auftritt in manchen Familien, geht man von einer genetischen Disposition aus. Hochsensibilität ist erblich, das Asperger Syndrom, eine Form von Autismus, ist ebenfalls erblich.
Hochsensible und Asperger gehen sehr häufig Paarbeziehungen ein und gründen eine Familie. Die gemeinsamen Kinder haben meist sowohl Merkmale von Hochsensibilität als auch des Aspergersyndroms.
Kann es sein, dass ADHS die Synthese von Hochsensibilität und Asperger ist?
Das Asperger-Syndrom
Das Asperger Syndrom gehört zum Autismus Spektrum und gilt als “leichte” Form von Autismus; Symptome zeigen sich erst ab dem 3. Lebensjahr. Obwohl das Asperger Syndrom schon in den 1920er Jahren entdeckt wurde, wird es in Deutschland erst seit Beginn der 1990er Jahre diagnostiziert. Aus dem Grund gibt es sehr viele ältere erwachsene Asperger, die niemals diagnostiziert wurden.
Asperger äußert sich typischerweise bei Frauen und Männern unterschiedlich; bis heute gilt die Diagnose bei Mädchen und Frauen als viel schwieriger. Die Diagnostik ist aufwändig, wird oft nur bei einem stationären Klinikaufenthalt gestellt.
Die Wahrnehmung von Aspergern weicht stark ab von derjenigen neurotypischer Menschen. Asperger fühlen sich sehr fremd in der Welt, als ob sie in einem exotischen Land mit unbekannten Bräuchen gelandet wären; man spricht deshalb auch vom “Wrong Planet Syndrom”. Das alles trifft auch auf Hochsensible zu; ist aber bei Aspergern viel stärker ausgeprägt. Die gemeinsame Schnittstelle von Hochsensibilität und Asperger ist so gross, dass viele Hochsensible sich für Autisten halten. Mir sind etliche Fälle bekannt von Hochsensiblen, die von Psychologen eine (falsche) Asperger Diagnose erhielten. Umgekehrt gibt es Asperger, die sich für Hochsensible halten.
Sehr ähnlich wie bei Hochsensiblen ist vor allem die sensorische Wahrnehmung, allerdings ist bei den meisten Autisten die Sensibilität im sensorischen Bereich sehr viel höher. Wie die allermeisten Hochsensiblen mögen auch Asperger keine laute, unruhige Atmosphäre und ziehen eine reizarme Umgebung vor, sowie auch klar gegliederte, vorher bestimmbare Tagesabläufe. Weitere Ähnlichkeiten gibt es in der verbalen Kommunikation: Asperger sprechen sehr direkt und nehmen oft bis zur Absurdität jeden Satz wörtlich. Auch das Bedürfnis nach einer grösseren Individualdistanz teilen sie mit Hochsensiblen.
Das alles macht sie in vieler Hinsicht zu idealen Lebensgefährten für Hochsensible; beide haben ein ähnliches Bedürfnis nach Rückzug und einem ruhigen Leben mit wenig Überraschungen; und die Verständigung untereinander ist wesentlich einfacher als mit neurotypischen Menschen.
Aber es gibt auch einige gravierende Gegensätze zwischen Aspergern und Hochsensiblen.
Da ist einmal die Verarbeitung der Gefühle. Zwar stimmt nicht, dass Asperger generell nur wenige Gefühle haben, wie oft behauptet wird. Aber ein sehr typisches Merkmal des Asperger Syndroms ist Alexithymie (Gefühlsblindheit). Darüber hinaus sind auch nicht-gefühlsblinde Asperger sehr pragmatische Menschen, für die Gefühle eine erheblich geringere Rolle spielen als für Hochsensible, was wiederum emotionale Nähe sehr erschwert oder sogar unmöglich macht.
Auch die Denkprozesse unterscheiden sich extrem von denen Hochsensibler, sie sind ganz anders. Asperger denken nicht nur sehr rational, sie folgen einem Gedanken von A nach B wie auf einer Einbahnstraße. Gesprächen mit vielen Nebensätzen oder in denen man “vom Hölzchen zum Stöckchen” kommt, können sie meist nicht folgen. Während Hochsensible vom Ganzen zum Detail gehen, gehen Asperger den umgekehrten Weg.
Trotz dieser Gegensätze ist die Unterscheidung zwischen Asperger Syndrom und Hochsensibilität oft nicht einfach. Das liegt nicht nur daran, dass die Gemeinsamkeiten viel auffälliger sind als die Gegensätze, sondern auch daran, dass es viele Menschen gibt, in deren Familie sowohl Hochsensibilität als auch Asperger auftritt. Da beides erblich ist, haben diese Menschen von beiden Züge geerbt. Es gibt darüber keine Untersuchungen; aber nach meinen Recherchen gehören diese Menschen einem eigenen neurodiversen Typ an.
Persönlichkeitsstörungen
Bei einer Persönlichkeitsstörung handelt es sich um eine schwere psychische Störung, die mit einer veränderten Persönlichkeitsstruktur einhergeht. Die Entwicklung beginnt in der Kindheit, manifestiert sich aber erst beim Erwachsenen. Die Diagnose darf ausschließlich von einem Psychiater gestellt werden; eine Therapie gehört in die Hände eines erfahrenen Psychiaters oder spezialisierten Psychotherapeuten.
Bei oberflächlicher Betrachtung gibt es Übereinstimmungen in der Symptomatik einiger Persönlichkeitsstörungen bei manchen Hochsensiblen, vor allem bei einem schwach entwickelten Selbstbewusstsein oder bei gleichzeitiger Hypervigilanz. Wenden die Betroffenen sich an einen Psychologen oder Therapeuten, kommt es bei mangelnder Kenntnis von Hochsensibilität leider vor, dass dort eine anfängliche Verdachtsdiagnose gestellt wird. Verwechslungen geschehen vor allem mit der histrionischen, der emotional instabilen, der abhängigen und der narzisstischen PS.
Histrionische PS
Die histrionische PS wurde früher als Hysterie bezeichnet. Typisch sind starke Übertreibungen, Aufmerksamkeit forderndes Verhalten,Theatralik, schnell wechselnde Gefühlslagen, Dramatisierung von Situationen. Der Volksmund nennt histrionische Persönlichkeiten auch “Dramaqueen”. Solch ein Verhalten wird Hochsensiblen vor allem in Kindheit und Jugend leider bis heute von unsensiblen, neurotypischen Bezugspersonen vorgeworfen.
Emotional instabile PS
Diese Störung ist besser bekannt als Borderline Syndrom. Typisch ist mangelnde Impulskontrolle und Launenhaftigkeit sowie sehr ambivalentes Verhalten in Beziehungen. Eines der Leitsymptome ist die Unfähigkeit, emotionale Zustände zu kontrollieren.
Hochsensible, die auch hypervigilant sind, also an einer PTBS ( posttraumatisches Belastungssyndrom) leiden, zeigen oft derartige Verhaltensweisen.
Abhängige oder dependente PS
Menschen, die an einer abhängigen PS leiden, gehen sehr enge Bindungen ein und neigen dazu, sich sehr stark anzupassen. Stabile Beziehungen sind ihnen außerordentlich wichtig, sie ordnen deshalb meist eigene Bedürfnisse denen anderer Personen unter.
Narzisstische PS
Die narzisstische PS (NPS) ist wohl die bekannteste aller Persönlichkeitsstörungen. Das liegt einerseits daran, dass die Gesellschaft immer narzisstischer wird: Einige typisch narzisstische Eigenschaften wie rücksichtsloses und egozentrisches Benehmen sowie manipulatives Verhalten werden immer mehr akzeptiert und als normal betrachtet, während Werte wie Aufrichtigkeit und Solidarität immer unwichtiger zu werden scheinen. Das hat andererseits zur Folge, dass der Begriff “Narzisst” heute inflationär benutzt wird. Bei Narzissmus besteht aber ein sehr großer Unterschied zwischen einem Menschen mit narzisstischen Zügen und einem Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Die NPS umfasst ein sehr breites Spektrum, vom sogenannten weiblichen und verdeckten bis hin zum malignen, psychopathischen Narzissten.
Typisch für NPSler ist das egozentrische Weltbild, völlige Selbstüberschätzung; Unfähigkeit, Kritik anzunehmen; sowie auch die Unfähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen auf Augenhöhe einzugehen. Stattdessen werden Menschen benutzt und manipuliert.
Wie kann eine solche Störung mit Hochsensibilität verwechselt werden, die genau als das Gegenbild dazu erscheint?
NPSler täuschen nicht nur andere, sondern in erster Linie immer auch sich selbst. Es wird immer wieder behauptet, Narzissten hätten keine Empathie. Das stimmt nicht! Sie können sich sehr wohl in andere Menschen hineinversetzen, sogar außerordentlich gut; nur deshalb können sie manipulieren. Sehr viele NPSler sehen sich deshalb als Hochsensible! Allerdings ist die emotionale Empathie, das Mit-Fühlen, ausschließlich auf sie selbst bezogen. Sie ziehen Masken an, verkleiden sich, um diejenigen Menschen anzuziehen, die ihnen nutzen.
Hochsensible sind wegen ihrer Empathie und Loyalität als Beziehungspartner sehr begehrt von NPSlern. Wenn der Hochsensible beginnt, die Störung des Partners zu erkennen, glaubt er nur allzu oft, ihm helfen zu können. Typisch für solche Beziehungen ist, dass der NPSler mit der Zeit sowohl den Partner als auch seine Umgebung davon überzeugen kann, er selbst sei das Opfer, der (hochsensible) Partner der toxische, narzisstische Partner. Wenn es dann zur Trennung kommt, glauben die hochsensiblen Partner häufig tatsächlich, selbst narzisstisch gestört zu sein. Ein solches Beziehungsgeflecht ist auch für Therapeuten äußerst schwer zu durchschauen wegen der perfekten Selbstdarstellung narzisstisch Gestörter.
Wenn du unsicher bist
Wenn du unsicher bist bezüglich der Hochsensibilität; wenn du bestimmte Probleme hast und nicht weisst, ob diese mit der Hochsensibilität zusammenhängen, empfehle ich, zunächst einen auf Hochsensibilität spezialisierten psychologischen Berater oder Coach zu konsultieren. Mit dessen Hilfe kommst du schon einen grossen Schritt weiter, gegebenenfalls wird er weitere Schritte und Anlaufstellen empfehlen.
Wenn du hast eine Diagnose erhalten hast, aber die Richtigkeit anzweifelst: Falls der Arzt deine Bedenken nicht ernst nimmt, zögere nicht, eine zweite Diagnose einzuholen. Die Chemie zwischen dir und dem Psychiater bzw. Therapeuten muss stimmen; du musst ihm Vertrauen entgegen bringen können, damit der diagnostische Prozess gut verlaufen kann. Wenn du weisst, dass du ein Bindungstrauma oder Entwicklungstrauma erlitten hast, beantrage eine Psychotherapie bei einem Traumatherapeuten. Leider sind die Wartezeiten meist sehr lang; erwäge, ob eine private Therapie in Frage kommt.
Falls du bei dir oder deinem Kind Hochbegabung vermutest als Ursache von Schulschwierigkeiten oder Arbeitsproblemen: Einen IQ Test kann jeder Psychologe durchführen; leider sind die Ergebnisse längst nicht in jedem Fall zuverlässig, denn der IQ stellt immer nur den durchschnittlichen Wert dar. Möglicherweise bist du auf einigen Gebieten außerordentlich begabt, in anderen aber nur unterdurchschnittlich. Bei Kindern sollten alle Störfaktoren während der Testsituation unbedingt ausgeschlossen werden. Deshalb empfehle ich, sich von einem Begabungsdiagnostiker testen zu lassen. privat getragen werden. Die Investition lohnt sich auf jeden Fall; denn auf hochbegabte Kinder und ihre besonderen Bedürfnisse wird in vielen Schulen sehr viel mehr Rücksicht genommen als auf hochsensible Kinder.
Für hochbegabte Erwachsene bietet sich eine Beratung an durch Psychologen, die auf Hochbegabung spezialisiert sind.
Mehr zu dieser Thematik findest du übrigens in meinem neuen Buch:
Hochsensibilität ist mehr als hochsensibel sein
Im Anhang des Buchs sind eine Checkliste, mit der du die Ergebnisse von Hochsensibilitätstests analysieren kannst; und ein umfangreicher Arbeitsteil, der hilft, Hochsensibilität bei Kindern und Jugendlichen festzustellen.