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Einen Neuanfang im Leben zu machen ist schwer. Zumindest, wenn man nicht mehr zu den Jugendlichen zählt.
Warum?
Weil zu jedem Neuanfang gehört, Altes aufzugeben.
Dieses Alte will man nicht mehr; weil es nicht mehr ins Leben passt. Warum ist dann das Loslassen so schwierig?
Das Alte, was immer es sein mag, – der Job, die Beziehung, der Wohnort -, ist man gewohnt; es ist vertraut. Sogar wenn dieses Alte, was man gerne aufgeben will, richtig schlecht ist, ist es wie jede Gewohnheit im Lauf der Zeit Bestandteil unserer feinstofflichen Konstitution geworden.
Deshalb fällt es den meisten Menschen so schwer, den ungeliebten Job aufzugeben, den Ort zu verlassen, mit dem einen so viel verbunden hat; oder den Partner zu verlassen, mit dem einen nichts mehr verbindet als gemeinsame Erinnerungen.
Oft ist ein Neubeginn auch deshalb schwierig, weil man das Alte, Vertraute zwar aufgeben will, aber noch keine Ahnung hat, wie das Neue sein wird. Und etwas aufzugeben, ohne zu wissen, wohin der Weg führt, erfordert ganz schön viel Mut.
Einen kompletten Neuanfang zu machen fordert nicht nur eine enorme Willensanstrengung, sondern auch viel Durchhaltevermögen.
Die Phasen eines Neustarts
Jeder Art von Neubeginn stellt einen tiefen Einschnitt im Leben dar und läuft nach bestimmten Gesetzmässigkeiten ab.
Um meinen eigenen Neuanfang zu planen und durchzuführen, brauchte ich etwa 6 Jahre!
Phase 1: Die Entscheidung
Das ist doch selbstverständlich und nicht als eigenes Stadium zu bewerten? Nicht unbedingt. Denn oft ist es genau diese Phase, die den gesamten Prozess oft viele Jahre dauern lässt.
Das erleben beispielsweise Menschen, die in toxischen Beziehungen leben: Sie denken zwar immer wieder über Trennung nach, aber bis zum tatsächlichen Entschluss vergehen oft viele Jahre damit, sich im Kreis zu drehen: nachdenken, recherchieren, zögern, planen – und immer wieder zurückweichen.
Ist es woanders besser?
Sechs Jahre habe ich mich immer wieder gefragt: Soll ich es wagen, meinen sichere heimatliche Insel aufzugeben, an einem anderen Ort neu anzufangen?
Es begann damit, dass mein geliebtes Haus, das mir über 20 Jahre Heimat und sicherer Hafen war, immer mehr zur einsamen Insel im stürmischen Meer wurde. Nur zu Hause fühlte ich mich wohl und geborgen, die gesamte Umgebung wurde durch vielfältige Eingriffe in die Natur und Baumassnahmen stetig abweisender.
Was also hielt mich noch an diesem Ort, der mein Leben immer komplizierter machte?
Angst. Angst vor dem Unbekannten. Angst vor einer falschen Entscheidung – was, wenn es woanders eventuell noch grössere Nachteile gab? Vor allem aber Angst davor, das Bekannte, Vertraute loszulassen.
Phase 2: Die Planung
Die Frage nach dem Ort
Bei der Planung ging ich genau so vor, wie ich es meinen Klienten und Lesern* empfehle:
Ich schrieb auf, was ich ich mir vorstellte, in mehreren Kategorien. Als erstes das, was unverzichtbar war. Als zweites das, was mir sehr wichtig war. Und dann noch das, was ich mir wünschte, was aber zur Not verzichtbar war.
Von diesem Moment an las und überprüfte ich diese Liste regelmässig. Schnell wurde mir klar, dass diese eine sehr wichtige Frage unbeantwortet liess: In welchem Land sollte der neue Wohnort sein; sollte ich in Finnland bleiben oder nach Deutschland zurück gehen, oder ganz woanders hin?
In dieser Phase machte ich den ersten Fehler: Ich suchte die perfekte, ideale Lösung. Das Haus, das Wohnumfeld, das alle Wünsche erfüllte und alle Probleme ein für allemal löste; also für immer stimmig sein sollte.
Eines der wichtigsten Kriterien war für mich: Leben in einer Gemeinschaft. Selber gründen kam nicht in Frage; diesen Prozess habe ich in jungen Jahren mehrmals erlebt, das wollte ich mir nicht antun. Es musste doch eine zu mir passende Gemeinschaft geben, in einer für mich passenden Umgebung, die neue Bewohner suchte?
Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass sich genau dieser Punkt als der schwierigste überhaupt herausstellen sollte.
Die Suche danach begann ich im Internet und stiess sofort auf Probleme. Es fing an mit dem Begriff: Was für eine Gemeinschaftsform suchte ich? Was für Ziele sollte diese Gemeinschaft haben, was verband die Menschen, die sich da zusammenfanden?
Diese Punkte hatte ich recht schnell geklärt, und damit reduzierte sich das Angebot um geschätzte 99 Prozent.
Eine weitere Schwierigkeit, die ich mir nicht klar gemacht hatte, lag darin, dass ich weit über 2000 Kilometer entfernt lebte und ein Besuch zum Kennenlernen nicht mal eben so möglich war.
Verlängert wurde diese Phase durch die Pandemie. Während in Finnland davon kaum etwas zu spüren war, gab es in Deutschland jede Menge Lockdowns und Einschränkungen, die Besuche bei und Treffen mit Gruppen unmöglich machten. So dachte ich in dieser Zeit wieder darüber nach, ob ich nicht doch besser in Finnland aufgehoben bin.
Erst durch einige gravierende Ereignisse in meinem privaten Umfeld fiel dann der Entschluss, nach Deutschland zu ziehen. Gleichzeitig erkannte ich, wie sehr die Suche nach dem endgültigen Für-immer-Zuhause mich bremste. Nachdem das Kriterium „das wird mein letzter Umzug“ weggefallen war, ging alles sehr schnell. Ich begann, mich nach Wohnungen umzuschauen.
Phase 3: Lösen vom Alten
9 Wochen
Von diesem Tag an dauerte es bis zum Tag meines Umzugs ganze 9 Wochen! nachdem ich mich von vielen alten Vorstellungen, wie ich wohnen wollte, gelöst hatte, fielen Mauern. Nach weniger als 2 Wochen bekam ich ein Wohnungsangebot durch Vermittlung einer Freundin; ein Angebot in einem Ort, einer Gegend, die ich nicht kannte. Ich erkannte meine Chance und griff ohne zu zögern zu.
Die Phase des Aussortierens begann. Nicht nur viele Vorstellungen und Wünsche wurden aussortiert, sondern auch und vor allem viele Dinge. Ich trennte mich von vielen, vielen Dingen, an denen mein Herz hing: Angefangen von jeder Menge Möbelstücke, die mich über Jahrzehnte begleitet hatten, über Kleidung, Bücher, Hausrat und allem, was mensch eben in Schränken und Kommoden aufbewahrt. Insgesamt habe ich mindestens so viel weggegeben wie mitgenommen.
Diese Phase des Loslassens ging fliessend in die nächste Phase über:
Phase 4: Umsetzung
Die Umsetzung, der eigentliche Umzug, war die mit grossem Abstand stressigste und anstrengendste Phase. Andererseits erlebte ich diese Zeit aber auch als sehr befreiend; denn nun war die Entscheidung, das Alte hinter mir zu lassen, unwiderruflich. Die innere Lösung hatte ich vollzogen.
Was in meinem speziellen Fall so stressig war, war die Besonderheit eines Umzugs ins Ausland. Zum Beispiel hätte ich nie gedacht, wie extrem schwierig es sein kann, eine Spedition dafür zu finden. Auch das Packen des Umzugsguts war sehr viel zeitraubender, als ich das von früheren Umzügen in Erinnerung hatte. Offensichtlich wächst die Zeit, die das Packen benötigt, proportional zu den Jahren, die man in einem Haus gelebt hat. Noch einmal wurde vieles aussortiert, während der Zeitdruck von Tag zu Tag wuchs.
Als dann das Umzugsgut abgeholt worden war und ich mich mit den Hunden auf den Weg zum Schiff machte, das uns zu unserem neuen Wohnort in Deutschland bringen sollte fiel die ungeheure Anspannung der letzten Wochen ganz allmählich von mir ab. Nach zwei Tagen kamen wir mitten in der Nacht an unserem neuen Wohnort an.
Das Auspacken und Einräumen war dann nur noch ein Kinderspiel im Vergleich zum Einpacken. Ich fühlte mich sofort wohl in der neuen Umgebung, und alles fühlte sich federleicht an.
Phase 5: Konsolidierung der neuen Situation
In der ersten Zeit im neuen Zuhause war ich erfüllt von tiefer Dankbarkeit.
Ich war dankbar dafür, dass alles wunderbar geklappt hatte. Dafür, dass ich endlich den Absprung geschafft hatte. Dafür, dass mir in der entscheidenden Phase vom Himmel Helfer geschickt worden waren. Dafür, dass ich in Deutschland war. Dafür, dass ich dem finnischen Winter entronnen war.
Neben der Dankbarkeit empfand ich vor allem Verwunderung. Jeden Morgen beim Aufwachen fragte ich mich verblüfft, ob es wahr ist, dass ich tatsächlich diese gewaltige Wende vollzogen habe. Nach den Jahren der Entscheidungsfindung war der Umzug selbst in einem solch rasenden Tempo geschehen, dass ich tatsächlich in den ersten Tagen fürchtete, zu schlafen und jeden Moment aus einem Traum aufzuwachen.
Zum arbeiten kam ich in dieser Phase noch immer nicht. Sobald es feststand, dass der Umzug bevorstand und mein Neubeginn in Phase 3 ging, unterbrach ich sowohl das Schreiben als auch die Beratungsarbeit mit dem Vorsatz, beides so schnell wie möglich, also nach dem Auspacken der Umzugskisten, im gewohnten Rhythmus wieder aufzunehmen. Doch der Ortswechsel wirkte tief in meine feinstoffliche Konfiguration; denn mein Schlaf- Wachrhythmus änderte sich; mein alter Tagesrhythmus geriet völlig aus den Fugen. Es dauerte Wochen, bis sich nach und nach ein neuer Arbeitsrhythmus herauskristallisierte.
Insgesamt dauerte die Eingewöhnungsphase 12 Wochen. Zu diesem Zeitpunkt, direkt nach Neujahr, fuhr ich zu einem Treffen in einen mir von früher bekannten Ort, der eine gute Autostunde entfernt liegt. Als ich mich auf der Rückfahrt meinem neuen Wohnort näherte und die mittlerweile recht gut bekannte Umgebung auftauchte, empfand ich tiefe Freude: Bald bin ich zu Hause! Hier bin ich zu Hause!
Da wusste ich, ich bin endgültig angekommen.
Nach dem Neustart
Der tiefgreifende Wechsel in eine vollkommen andere Landschaft, aus der vom Luftelement beherrschten, eintönigen, durch Granitfelsen geprägten nordskandinavischen Landschaft in die vom Wasser geprägten münsterländischen Auwald-Landschaft mit ihrer völlig anderen Flora und Fauna, verbunden mit einem ebenso grossen Klimawechsel, bescherte mir einige neue berufliche Inspirationen, an deren Umsetzung ich zur Zeit arbeite.
Neu ist auch diese Erkenntnis:
Die Beziehungsmuster, nach denen mensch handelt, sind immer dieselben! Ob es bei dieser Beziehung um eine Partnerschaft geht, um einen Job, oder um einen Ort, ist unwesentlich.
Wer sehr gründlich prüft und sorgfältig abwägt, bevor er sich vom Partner trennt, wird das beim Jobwechsel und einem Wohnortwechsel nicht anders machen.
Und manchmal ist der Neubeginn nicht wie gehofft, der Startpunkt für eine neue Lebensphase, sondern nur eine kurze Zwischenstation, eine Pause auf dem Weg.
So ist es auch bei mir; der nächste Neuanfang steht bevor. – Die Phasen wiederholen sich. Und obwohl dieser nächste Neustart so kurze Zeit auf den letzten folgt, ist mir die 1. Phase der Entscheidung wieder schwer gefallen. Auch die jetzige Planungsphase wird erschwert durch meine hochsensible tiefe Verbundenheit mit allem hier, den Menschen, der Natur, und dem ganzen Ort.
Beweglichkeit in Zeiten des Wandels
Vielleicht fragst du dich jetzt, wie ich nach dem einschneidenden Wechsel, meinem Umzug durch halb Europa, mit einem nochmaligen Neustart umgehe.
Meine erste Reaktion war natürlich ein Schock. Doch den überwand ich schnell; dabei half mir, dass ich immer noch im Dankbarkeits-Modus war und bin.
Und dann besann ich mich auf mein inneres Wissen.
Die Erde, das heisst, wir alle, befinden uns in einem gewaltigen Transsformationsprozess. Das bedeutet, dass sich sowohl die Gesellschaft als auch die politischen und wirtschaftlichen Machtsysteme mitten in einem sehr stürmischen, deutlich spürbaren Wandel befinden.
Wie verhält man sich am besten bei Sturm? Jeder Sturm, ob physikalisch, emotional oder ätherisch, stellt uns vor einige Herausforderungen*. Die Natur lehrt uns, wie man ihnen am besten begegnet: Grashalme und junge biegsame Bäume biegen sich im Sturm; beugen sich bis hinab zur Erde; und richten sich wieder auf, wenn der Sturm vorbei ist. Nur den altersstarren, unbeweglichen Bäumen kann der Sturm etwas anhaben und sie brechen.
Auf meine Situation übertragen bedeutet das, dass auch ich mich beuge und nach dem Sturm richte, statt mich dagegen aufzulehnen. Ich besinne mich auf meine Lieblings-Affirmation:
Alles hat seinen Sinn, auch wenn ich ihn heute noch nicht verstehe. Ich vertraue darauf, dass sich alles zum Besten wendet.
*Hier findest du mehr über Hochsensibilität im Alltag und über die Chancen und Herausforderungen von Hochsensibilität in dieser Zeit des Wandels:
Mein Grundlagenwerk über Hochsensibilität