Bis vor einiger Zeit dachte ich, ich sei „nur“ hochsensibel.
Hochsensibel sein heisst, Dinge anders wahrzunehmen. Alles miteinander.zu verknüpfen. Gefühle anders zu verarbeiten. Auf andere Art zu denken und zu kommunizieren.
Das alles habe ich seit Jahren analysiert, erforscht, reflektiert. Hochsensible sind anders.
Es war immer notwendig, sich als hochsensibler Mensch anzupassen in der Gesellschaft. Anzupassen an die Art der neurotypischen Menschen zu denken, wahrzunehmen, zu fühlen, zu kommunizieren.
Da ich das von Kindheit an geübt habe und es nie anders kannte, habe ich das nie als Problem empfunden.
Ich war immer anders. So what!
Doch nun ticke ich nicht mehr einfach nur anders. Ich nehme nicht mehr nur die Dinge anders wahr – ich nehme andere Dinge wahr. Ich denke nicht mehr auf andere Art, sondern ich denke grundlegend anders, denke über völlig andere Dinge nach. Ich verstehe die Gedanken, Empfindungen Wahrnehmungen anderer Menschen nicht anders, sondern habe sehr grosse Mühe, sie überhaupt zu verstehen. Inmitten der anderen Menschen scheine ich in einem Paralleluniversum zu leben.
Dieses Gefühl ist mir zwar von Jugend an vertraut. Aber etwas ist jetzt anders. Im Unterschied zu früher erlebe ich mich nun ständig als Ausserirdische; in jedem einzelnen Augenblick. Und im Gegensatz zu früher scheinen die verschiedenen Paralleluniversen sich mit ständig steigender Geschwindigkeit voneinander zu entfernen.
Paralleluniversen
Was ist geschehen? Ein Virus hat die Welt erobert. Eine Pandemie wurde ausgerufen. Plötzlich sprossen allerlei apokalyptische Prophezeiungen auf wie Blumen in der Wüste nach dem Regen. Nach meiner heutigen Sichtweise schuf jede dieser Prophezeiungen ein eigenes Universum. Anfangs waren all diese vielen Paralleluniversen noch sehr nah beieinander; man konnte den Nachbar-Universen freundschaftliche Besuche abstatten.
Doch jetzt, zwei Jahre später, Ostern 2022 – der Abstand hat sich vergrössert, zum Teil ist er fast unermesslich gross geworden. Der Zugang zu den vormaligen Nachbarn ist schwierig oder unmöglich geworden. Es hilft nicht, dass ich mich in den letzten zwei Jahren so sehr darum bemüht habe, eine gute Nachbarschaft mit freundschaftlichen Beziehungen zum Neben-Universum zu pflegen. Denn der Raum hat sich offensichtlich gedehnt, dehnt sich immer mehr aus, und damit vergrössert sich die Distanz mehr und mehr.
Wir leben in Zeiten einer menschheitsgeschichtlichen Transformation. Damit verbunden ist ein riesiger Entwicklungssprung für die Menschheit. In der Geschichte der menschlichen Entwicklung gab es immer wieder derartige Transformationen. Immer sind solche Zeiten verbunden mit Krisen, Chaos, riesigen gesellschaftlichen Umwälzungen.
Allerdings vollziehen die Menschen diese unumgänglichen Entwicklungsschritte nicht gleichzeitig. Immer gehen einige voraus, zuerst nur wenige. Nach und nach folgen immer mehr, bis irgendwann der Grossteil der Menschheit in der Neuzeit angekommen ist. Einige gehen langsam, andere schneller. Einige Menschen zögern sehr lange, bevor sie sich zu dem ersten Schritt ins Unbekannte entschliessen können.
Letztendlich wird die gesamte Menschheit diesen Weg gehen, aber wie lange wird es dauern? Wie viele Generationen?
Sicher ist jedenfalls, dass der gesamte Zeitraum dieser Transformation mit sehr viel zwischenmenschlichem Leid verbunden ist, bis alle den Weg in die Neuzeit geschafft haben und das Leben wieder ruhiger wird.
In dieser Zeit entstehen neue parallele Welten für die diversen Entwicklungsetappen.
Das Universum, in dem ich mich befinde, ist sehr klein. Es gibt hier nicht so viele Menschen. Es gibt einige Nachbaruniversen, die ich besuchen kann, aber die meisten sind bereits zu weit entfernt.
Das Allerschlimmste daran ist: Ich spüre keine Verbundenheit mehr zu den Menschen in den weiter entfernten Universen. Ich fühle sie nicht mehr! Das ist furchtbar! Denn mein ganzes bisheriges Leben habe ich mich mit allen anderen verbunden gefühlt. Es ist für mich eine neue, sehr schmerzhafte Erfahrung, dass es Menschen gibt, die ich nicht fühlen kann. Da ist es nur ein sehr schwacher Trost, dass es anderen Menschen genau so geht – die Verbindung ist abgerissen.
Ist es möglich, wieder eine Verbindung zu den weiter entfernten Menschen herzustellen?
Brücken bauen
Wir könnten Brücken bauen. Wir sollten Brücken bauen.
Das ist allerdings leichter gesagt als getan! Wie kann das gelingen?
Das kann gelingen, wenn alle mithelfen; indem jeder von seinem Universum aus beginnt, eine Brücke zu bauen.
Und wenn jeder auf seiner Brücke dem anderen entgegengeht, muss man nicht den Sprung ins Nachbaruniversum machen. Es reicht vielleicht, wenn man sich im Raum trifft zwischen den Welten, jeder auf seinem Brückenteil.
Vielleicht entsteht dann genug Nähe, dass die Spaltung überbrückt wird, dass die Verbundenheit wiederhergestellt wird.
Ob das funktioniert?
Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung.
Aber ich wünsche es mir von Herzen, denn nie hätte ich gedacht, dass ich die fehlende Verbundenheit mit einem grossen Teil der Menschen so schmerzlich vermissen würde.