Hochsensibilität, Hochempfindlichkeit – warum der Unterschied so wichtig ist

Zwillinge sehen sich ähnlich
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Jutta AdministratorKeymaster
Mein Name ist Jutta Jorzik-Oels, als Berater und Coach bin ich spezialisiert auf Hochsensibilität. Ich helfe hochsensiblen Menschen in Krisensituationen.

Du denkst, es handelt sich um eine reine Wortspielerei? Denn schliesslich bedeutet sensibel, empfindlich, empfindsam, sensitiv doch dasselbe? Richtig, aber der Begriff Hochsensibilität / wahlweise Hochsensitivität ist „besetzt“ von der Psychologie, Hochempfindlichkeit nicht. Die linguistische Bedeutung ist gleich, die so bezeichneten Syndrome sind es ganz und gar nicht.

 

Hochempfindlich ist nicht gleich Hochsensibel

Tatsächlich handelt es sich bei Hochempfindlichkeit um etwas völlig anderes als bei Hochsensibilität.

siehe auch: Hochsensibel – oder Hochempfindlich?

Hier eine kurze Zusammenfassung: Hochsensibilität ist ein angeborenes, erbliches Persönlichkeitsmerkmal.

Hochempfindlichkeit ist nicht angeboren und auch kein Persönlichkeitsmerkmal. Sondern es handelt sich um ein Syndrom als Folge eines nicht verarbeiteten Entwicklungstraumas im Kindesalter oder eines Schocktraumas.

Da die äusseren, die leicht messbaren, durch Tests abzufragenden physischen und seelischen Symptome sehr ähnlich sind, wird beides oft verwechselt. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied:

Hochsensibilität geht immer einher mit einer anderen Wahrnehmungsverarbeitung und Denkweise. Die neuronale Vernetzung im Gehirn von HSM ist anders.

Diese Tatsache ist bei allen Psychologen, die sich mit dem Thema beschäftigen, genau so bekannt ist wie jene, dass durch Traumata Symptome ausgelöst werden können, die wie Hochsensibilität aussehen.

Aber zu meinem grossen Leidwesen und völligen Unverständnis sind mir nur zwei Kollegen bekannt, welche deutlich darauf hinweisen, dass es sich dabei eben nicht um Hochsensibilität handelt!

Denn bei Hochempfindlichkeit fehlt das wichtigste Kriterium für Hochsensibilität: Die ganz andere Art des Denkens.

siehe auch: hochsensibilitaet-was-genau-ist-das-eigentlich/

 

Oft gestellte Fragen

Hochsensibilität oder Hochempfindlichkeit?
hochsensibel oder hochempfindlich?

 

Immer wieder werde ich gefragt:

Warum ist es denn überhaupt wichtig, zu wissen, ob man HS oder HE ist?

Es ist wichtig, weil es in allen sozialen Beziehungen; ganz besonders in Paarbeziehungen, aber auch in Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen eine grosse Rolle spielt!

Denn die sehr andere Art zu denken wirkt auf die Art der Kommunikation.

Normalerweise geht mensch davon aus, dass der andere genau so tickt wie man selbst. Zumindest, wenn man in derselben Kultur, mit derselben Muttersprache aufgewachsen ist. Dass der oder die andere die Konventionen, die es in jeder Sprache gibt, in derselben Weise benutzt.

In jeder Sprache gibt es unendlich viele Konventionen! Das heisst Absprachen über die Verwendung bestimmter Begriffe.  Jeder, der eine Fremdsprache wirklich beherrscht, wird bestätigen, dass diese Übereinkünfte die grösste Herausforderung sind, denn sie führen zu unerwarteten Missverständnissen!

Nehmen wir z.B. den Begriff „gleich“ als Zeitangabe: „Ich mache das gleich“.  Die Auslegung, was „gleich“ bedeutet, ist sehr individuell; jeder hat diese Erfahrung schon gemacht und sich gewundert, wie unterschiedlich dieses „gleich“ ausgelegt wird.  Viele, wahrscheinlich die meisten Hochsensiblen, lieben den korrekten Umgang mit Sprache und neigen dazu alles wörtlich zu nehmen. So haben viele HSM Probleme, Ironie als solche zu erkennen.

Dazu kommen die Höflichkeitskonventionen. Im deutschen sind kleine Lügen nicht nur erlaubt, sondern sogar ausdrücklich erwünscht, wenn es der Höflichkeit dient. Beim typischen HSM geht im Zweifelsfall Wahrheit vor Höflichkeit; und ein empathischer HSM kann schon mal sagen: „Mein Gott, du siehst ja furchtbar aus – geht es dir nicht gut, hast du Sorgen?“ Nach den Höflichkeitsregeln ist so eine Frage in Deutschland ein absolutes NoGo.

Nun geht es in der Kommunikation zwischen HSM und NSM aber keineswegs nur oder hauptsächlich um Konventionen, sondern die Assoziationen zum gesagten sind oft völlig unterschiedlich.

Ausserdem sind viele HSM, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, Synästhetiker, und können deshalb oft erstaunlich, ja sogar völlig anders als erwartet reagieren. Das ist besonders dann der Fall, wenn es sich um recht unspektakuläre Synästhesien handelt, was für den Grossteil aller Synästhesien zutrifft.

 

 

Hochempfindliche Menschen 

können ebenfalls auf ganz unerwartete Weise reagieren.  Die für die Umwelt überraschenden Reaktionen werden ausgelöst durch sog. Trigger – jemand sagt etwas, wodurch das Trauma reaktiviert wird.

Das ist eine vollkommen andere Ausgangssituation als beim Hochsensiblen. Während die Kommunikation zwischen Normalsensiblen Und HSM sehr oft grundlegend unterschiedlich ist, weswegen es häufig zu Missverständnissen auf beiden Seiten kommt, ist in der Kommunikation mit HEM zu berücksichtigen, dass er seelische Verletzungen hat, die jedes Mal, wenn sie reaktiviert werden, noch tiefer werden – solange die Traumata nicht überwunden und integriert werden.

In einer Paarbeziehung geht es natürlich um viel mehr als „nur“ Kommunikation: Die Bedürfnisse des Partners zu kennen und zu akzeptieren zum Beispiel. Hochempfindliche haben ganz andere Bedürfnisse als Hochsensible.

Thema Reizüberflutung: Die Symptome sind bei beiden gleich, bei individuell unterschiedlichen Schwerpunkten. Aber während es HSM in der Regel ohne weiteres wegstecken, zu bestimmten Gelegenheiten einer starken Reizüberflutung ausgesetzt zu sein – beispielsweise bei grossen Familienfeiern -, ist das für HEM erheblich schwieriger oder sogar unmöglich.

Auch die so oft beschriebenen Bedürfnisse nach häufigen Ruhepausen und einem geeigneten Rückzugsort sind neben den individuellen Abweichungen unterschiedlich ausgeprägt zwischen HSM und HEM: Dem HSM ist es ein Bedürfnis, damit er in Ruhe über das Erlebte nachdenken und sich selbst reflektieren kann. Deswegen kommt er meist mit Ausnahmen zurecht. Für den HEM ist es eine  absolute Notwendigkeit, weil die Umwelt ihn überfordert und schmerzt.

 

Gibt es auch Hochsensibilität und Hochempfindlichkeit gleichzeitig?

Hochsensibilität und Hochempfindlichkeit - Achtung, hoch entflammbar!
Hochsensibilität UND Hochempfindlichkeit

 

Selbstverständlich gibt es hochsensible Menschen, welche gleichzeitig auch hochempfindlich sind.  Hochempfindlichkeit wird durch ein Trauma verursacht. Und natürlich haben HSM genau so häufig traumatisierende Erlebnisse wie Nicht-HSM.

Man unterscheidet verschiedene Arten von Traumata: Entwicklungstrauma und Schocktrauma.

Ein Entwicklungstrauma wird durch einen langanhaltenden extremen  Stresszustand in der sensiblen Entwicklungsphase verursacht, meist in der frühen Kindheit; z.B. durch häufige körperliche Misshandlung. Oft werden die Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen völlig verdrängt.  Die Folge ist eine PTBS, ein posttraumatisches Belastungssyndrom, das als Hochempfindlichkeit in Erscheinung tritt.

Je mehr die traumatischen Erlebnisse verdrängt wurden, desto zerstörerischer wirken sie; desto unbewusster die Gründe für die Hochempfindlichkeit und  desto langwieriger die Therapie.

Die Fehldiagnostik bei HSM ist hoch. Eine PTBS  kann bei einem HSM wie eine Borderline Störung erscheinen.  Das Thema Borderline und Hochsensibilität wäre eine eigene Untersuchung wert: Borderline scheint in den vergangenen Jahren eine Modediagnose geworden zu sein – noch vor etwa 20 Jahren kannten höchstens Fachleute diesen Begriff. Viele Hochsensible haben eine Borderline-Diagnose. Ich behaupte nicht, dass sich HS und BL gegenseitig ausschliessen. Aber ich halte es für möglich, sogar für wahrscheinlich, dass ein grosser Teil dieser Menschen Hochsensible sind, die aufgrund eines Entwicklungstraumas an einer PTBS leiden. (Der entscheidende Unterschied ist, dass eine PTBS heilbar ist, während BL zu den Persönlichkeitsstörungen zählt und zwar behandelbar ist, aber als unheilbar gilt.) – Eine andere Möglichkeit ist, dass diese Menschen eben nicht HS sind, sondern aufgrund der Borderlinestörung hochempfindlich.

siehe auch: Wie wirken Traumata auf Hochsensible

Im Gegensatz zu einem Entwicklungstrauma kann ein Schocktrauma in jedem Alter ausgelöst werden durch eine extreme, aber kurzfristige Stresssituation. Das kann ein Unfall sein oder auch eine Trennung. Hier ist der Zusammenhang zu den Triggersymptomen offensichtlich, in der Regel ist die dadurch verursachte Hochempfindlichkeit vorübergehend.

Der Vollständigkeit halber sei noch eine dritte Traumaform erwähnt: Extreme, langanhaltende traumatische Erfahrungen im späteren Lebensalter, welche zu schwersten PTBS führen. Dazu zählen Leben in Kriegsgebieten, Teilnahme an Kriegshandlungen, lange Geiselhaft, etc. Die Anpassungsschwierigkeiten vieler Flüchtlinge haben hier ihren Ursprung.

Was für Erfahrungen welche Spuren hinterlassen, ist völlig individuell. Bis jetzt kann niemand beantworten, warum bestimmte Erlebnisse bei dem einen ein tiefes Trauma auslösen und am anderen spurlos vorübergehen. Gibt es Unterschiede zwischen Hochsensiblen und Normalsensiblen? Bei Entwicklungstraumata ist es möglicherweise so, dass HSM zunächst stärker reagieren, aber  durch ihre HS eine höhere Resilienz haben; das heisst, dass sie leichter diese Traumata überwinden können: Dabei hilft das Phänomen des häufig bis ins Säuglingsalter zurückreichende Gedächtnis  sowie vor allem auch das vernetzte Denken.

Bei Krisen im Erwachsenenalter scheint es so zu sein, dass ein Schocktrauma bei einem Hochsensiblen eher ein Hochempfindlichkeitssyndrom auslöst als bei einem Normalsensiblen. Mein Eindruck ist, dass HSM auch länger brauchen als NSM, die Folgen zu überwinden und die Hochempfindlichkeit wieder abzubauen.

 

Hochsensibilität und Hochempfindlichkeit – das sind zwei Paar Stiefel

Ähnlich, aber nicht gleich: Hochsensibilität und Hochempfindlichkeit
Zwei Paar Stiefel: Hochsensibilität und Hochempfindlichkeit

 

Hochempfindliche Menschen gehören durch die Art, wie ihr Gehirn arbeitet, zu den sog. Neurotypen, sprich zu den Normalsensiblen. Aber sie haben spezielle Bedürfnisse. Ihre Wahrnehmung ist oft auf bestimmte Trigger fokussiert.

Hochsensible und Hochempfindliche kommunizieren unterschiedlich; sie denken anders und nehmen anders wahr. Gemeinsam ist beiden die Reaktion auf bestimmte Reize. Ihre Bedürfnisse sind unterschiedlich.

Hochempfindliche HSM sind und bleiben durch ihre angeborene Veranlagung immer HS. Je nach der Stärke des zugrundeliegenden Traumas ist auch bei ihnen die Wahrnehmung oft auf Trigger fokussiert. Die Art der Assoziation und des Denkens ist HS-typisch.

Die typischen Symptome der HS können dadurch verstärkt werden; ein traumatisierter Hochsensibler reagiert oft superhochempfindlich und wesentlich stärker als ein Normalsensibler mit einem Hochempfindlichkeitssyndrom.

Sehr typisch bei Hochempfindlichkeit ist auch der andere Schwerpunkt bei der Empathie: Während einerseits die Wahrnehmung der Stimmungen und Emotionen anderer Menschen verstärkt wird, ist vor allem bei hochempathischen HSM das so typische Mitgefühl herabgesetzt.

 

Dieser Beitrag…

wurde erstellt in einer Reihe über Beziehungen. Eine gute Beziehung zu führen heisst immer vor allem eins: Es ist Arbeit! Eine funktionierende Kommunikation ist ein wichtiges Werkzeug. Da macht es einen entscheidenden Unterschied, zu wissen, ob man selbst oder der/ die Partner/in HS, NS, oder HE ist.  ( oder etwas anderes – selbstverständlich gibt es noch mehr Abweichungen, deren Kenntnisnahme ebenso wichtig ist.)

Die Schwierigkeit ist, dass die herkömmlichen  Tests sehr unzureichend sind und eben zwischen HS und HE gar nicht unterscheiden.

Ich habe eine Checkliste erstellt, die Anhaltspunkte gibt (ganz unten hier kannst du dich für meinen Newsletter eintragen, um die Liste herunterzuladen). Aber auch hier gilt natürlich, dass die Beantwortung sehr subjektiv ist. Es ist fast unmöglich, einem anderen Menschen zu attestieren, ob er HS, NS oder HE ist, das kann und muss jeder für sich selbst herausfinden.

Falls du in einer Paarbeziehung bist, wäre es empfehlenswert, die Checkliste, in der u.a. sämtliche Fragen des Tests von Elaine Aron aufgeführt sind, zusammen mit deinem/deiner Partner/in durchzugehen und sich darüber auszutauschen.

Das ist eine gute Ausgangsvoraussetzung für eure Kommunikation!

*Wenn du Hilfe oder Unterstützung brauchst, schau dir mein hier mein Angebot an! 

Endlich da: Der Beziehungsratgeber für Hochsensible!

26.Mai 2021, 213 Seiten als TB und Kindle bei Amazon; als ePub bei Tolino

 

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17 Gedanken zu „Hochsensibilität, Hochempfindlichkeit – warum der Unterschied so wichtig ist

  1. Sehr informativer, super recherchierter und umfassender Artikel! Danke! Der Unterschied war mir so noch nicht klar gewesen!

    1. Der englische Ausdruck ist highly sensitive. HSP wird meist verstanden als Highly sensitive person, und so auch im deutschen benutzt; heisst aber eigentlich highly sensitive processing; so hat Elaine Aron es genannt. Darin kommt schon zum Ausdruck, dass es eigentlich um den Prozess, um die Verarbeitung geht

  2. Können sie Literatur empfehlen? Zb zu der Aussage, dass Hochsensibilität vererbt wird. Und zur Unterscheidung hsp und Hsp. Gibt es dazu Studien? Das ganze scheint mir nicht unumstritten zu sein zumal ich schon von mehreren (versierten) Traumatherapeuten gehört habe, dass jede hsp traumatisiert ist. Und es gibt ja auch transgenerationelle Traumata, deren genetische Weitergabe mittlerweile erforscht ist.

    1. Hallo Isa,
      danke für deine kritische Nachfrage. Literaturempfehlungen habe ich leider nicht. Dass Hochsensibilität vererbt wird, oder besser gesagt erblich ist, ist eine empirische Beobachtung.Man geht von einer genetischen Disposition aus, die durch Vererbung weitergegeben wir (wie es auch von anderen Neurodiversitäten wie Asperger bekannt ist). Von diesem Fakt gehen mittlerweile sämtliche Psychologen aus, die sich mit HS befassen.Ich habe in anderen Artikeln darüber geschrieben, wie ungeheuer schwierig es mit allen psychologischen Erkenntnissen ist, da sie sich nicht oder nur mit extrem grossem Aufwand – was heisst mit enormen finanziellen Mitteln – nachweisen lässt, weswegen halt die offizielle wissenschaftliche Anerkennung fehlt. – Was nun die von mir so genannte Hochempfindlichkeit betrifft (korrekter wäre die Bezeichnung hohe Vulnerabilität), so ist es ebenfalls eine empirische Beobachtung, dass es sich hierbei eben nicht um dasselbe handelt wie bei HS. Wobei es selbstverständlich auch viele hochsensible Menschen gibt, die aufgrund von Traumata zusätzlich eine HEentwickeln; auch darüber habe ich in einem Artikel geschrieben.
      Ich bin mir darüber bewusst, dass das nicht unumstritten ist. Traumatherapeuten allerdings sind Fachleute für Traumata, für PTBS, somit auch für HE – nicht aber für „normale“ HS! – Die ganze Thematik um Traumata ist sehr spannend. Gerade die kollektive Traumatisierung von ganzen Völkern im Zusammenhang mit transgeneratonellen Traumata stützt aber meine Theorie. Denn von den Jahrgängen bis in die 60er Jahre ist in Deutschland kein einziges Kind geboren worden, dessen Eltern nicht traumatisiert waren. Dazu die Erziehung, die noch auf die Nazi-Ideale zurückging; die sofortige Trennung der Neugeborenen von den Müttern, was nachweislich zu einem Trauma führte. Trotzdem ist der Anteil der HSM unter dieser Generation 10-15%. Andererseits ist neu an der HS ja lediglich der Begriff; HS als solche gab es schon immer, man findet immer wieder durch die Jahrhunderte bis ins Mittelalter zurück Erwähnungen. Und: HS ist ein Phänomen in der ganzen Natur: Es gibt hochsensible Tiere; von höhetentwickelten Säugetieren ist auch das längst bekannt; der Anteil ist genau so gross wie bei Menschen.

      Lieben Gruss, Jutta

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